Welt am Draht - Rainer Werner Fassbinder
Saturday, 10. August 2002
Rainer Werner Fassbinder

Geboren am 31. Mai 1945 in Bad Wörishofen, im selben Jahr wie Wim Wenders und drei Jahre nach Werner Herzog, war Rainer Werner Fassbinder zunächst das Wunderkind des Neuen Deutschen Films, später der "agent provocateur" im bundesrepublikanischen Kulturbetrieb: man denke nur an den Aufstand gegen sein angeblich linksfaschistisches Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod (1976) oder an die Kampagne der Boulevardpresse gegen den "Schmuddelsex" in Berlin Alexanderplatz (1980). Postum hat man Rainer Werner Fassbinder zum Klassiker stilisiert, als "das Herz, die schlagende, vibrierende Mitte" des bundesdeutschen Autorenkinos verortet (W. Schütte). In die Filmgeschichte eingeschrieben wurde der Filmemacher, der auch Dramatiker, Schauspieler und Theaterregisseur war, als "das maßlose Genie", nicht zuletzt von den selbsternannten Biographen aus dem Freundeskreis. Sein früher Tod, am 10. Juni 1982 in seinem Münchner Apartment, hat ein Lebenswerk vorzeitig vollendet, das seinen vielzitierten Wahlspruch noch retrospektiv zu illustrieren scheint: "Schlafen kann ich, wenn ich tot bin ..."

Über 40 Kino- und Fernsehfilme hat der Autodidakt Fassbinder, nach seiner erfolglosen Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und drei weitgehend unbekannt gebliebenen Kurzfilmen, in den 13 Jahren von 1969 bis 1982 gedreht: als ein Regisseur, der zumeist auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, mitunter sogar für Ausstattung, Kamera und Schnitt (letzteres unter seinem Pseudonym Franz Walsch), und als ein Filmemacher, der auch regelmäßig vor der Kamera agierte, vorrangig in seinen eigenen Filmen, aber auch in denen anderer Regisseure, am Beginn seiner Karriere etwa als Zuhälter in Jean-Marie Straubs Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) und in der Titelrolle von Volker Schlöndorffs Baal (1969), am Ende seines kurzen Lebens am eindringlichsten als abgehalfterter Polizeileutnant Jansen in Wolf Gremms Kamikaze 1989 (1982). Fassbinder war 1971 an der Gründung des Verlags der Autoren und der Produktionsgesellschaft Tango-Film beteiligt; er hat im kleinen Rahmen als Produzent gearbeitet, etwa bei Ulli Lommels Die Zärtlichkeit der Wölfe (1973), und er hat mit seiner Theaterarbeit für Aufsehen gesorgt: von 1967 bis 1969 als Kopf jener Münchner Avantgarde-Truppe, die sich erst "action- theater", dann "antiteater" nannte, von 1974 bis 1976 als künstlerischer Leiter des Frankfurter Theater am Turm (TAT). Am Theater inszeniert hat Fassbinder auch in Bremen, Bochum, Berlin, Hamburg und München. Seine Theaterstücke Katzelmacher (1968), Der amerikanische Soldat (1968) und Petra von Kant (1971) hat er selbst für die Leinwand adaptiert, und er hat das Medium Fernsehen genutzt, um seine Vorstellungen von Theater einem größeren Publikum zu präsentieren: mit Aufzeichnungen seiner Inszenierungen, von Das Kaffeehaus (1970) bis Frauen in New York (1977), und mit seinem einzigen Dokumentarfilm Theater in Trance (1981).

Daß man die Komplexität dieses zwischen den Medien changierenden Oeuvres keine zwei Jahrzehnte nach Fassbinders Tod in Erinnerung rufen muß, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß in diesem Fall der Künstler das Werk stets überschattete, auch provokativ akzentuierte und in die Diskussion brachte, und daß dieses Werk mit der Person allmählich zu verblassen droht, auch wenn Retrospektiven im In- und Ausland in den letzten Jahren noch einmal für Diskussionen gesorgt haben. Sicherlich werden einige Filme von Rainer Werner Fassbinder im Gedächtnis bleiben, etwa der späte Publikumserfolg Die Ehe der Maria Braun (1979), vielleicht auch Fontane Effi Briest (1974) und einige andere. Aber wie steht es mit den frühen Gangsterfilmen Götter der Pest und Der amerikanische Soldat (beide 1970) oder mit dem Western Whity (1971), Fassbinders erster Großproduktion, die nie einen Verleih fand? Wo läßt sich das Melodram Martha (1974), Fassbinders erste explizite Auseinandersetzung mit dem Sadomasochismus, heute noch begutachten oder seine lustvolle Selbstdarstellung als naiver Schwuler in Faustrecht der Freiheit (1975)? Wer erinnert sich noch an Satansbraten (1976), die Farce um ein Dichterleben aus zweiter Hand, oder an die Nabokov-Verfilmung Eine Reise ins Licht - Despair (1978), die trotz der Stars Dirk Bogarde und Andrea Ferreol kein Erfolg wurde? Wann wird der zweiteilige Science-fiction-Film Welt am Draht (1973) noch einmal auf dem Bildschirm erscheinen, wo hat Fassbinders hochartifizielle Genet-Adaption Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel (1982) noch Bedeutung, außer in der schwulen Subkultur? Selbst wenn einige der genannten und manche andere Filme von Fassbinder als Videoedition verfügbar sind: im Ausland spricht man von Fassbinder bereits als "the forgotten filmmaker" (Th. Elsaesser).

"Das wichtigste ist, scheint mir, Unbehagen an Einrichtungen des Bürgertums zu schaffen." Das Fassbinders "Ajax"-Inszenierung (1968) vorangestellte Motto kennzeichnet auch die Zielsetzung seiner frühen Spielfilme, die er mit den Mitgliedern der antiteater-Kommune realisierte, von denen der erste explizit an diejenigen gerichtet war, "von denen ich will, daß sie eine Wut kriegen, wie ich sie habe": Im Juni 1969 wurde Liebe ist kälter als der Tod auf der Berlinale uraufgeführt. Im Oktober desselben Jahres wurde Katzelmacher mit dem Preis der Filmkritik, dem Preis der Deutschen Akademie für darstellende Künste und mit fünf Bundesfilmpreisen ausgezeichnet. Es war der Beginn einer in der Geschichte des deutschen Films einzigartigen Produktivität.
Fassbinders frühe Filme, schnell und mit kleinem Budget produziert, erzählen von Gewalt und Entfremdung, in der Gesellschaft und zwischen den Menschen, von einem Leben aus zweiter Hand, dem das Eigene nicht mehr oder noch nicht zur Verfügung steht und das zumeist um die Trias Arbeit - Liebe - Geld kreist: um den Traum vom großen Geld und die ausbeutbaren Gefühle, um homoerotisch konnotierte Männerfreundschaften und um den Verrat der Frauen, die sich wie Huren verhalten, es bereits sind oder von Männern dazu gemacht werden. Trotz der Bezugnahmen auf die Filmgeschichte, in Der amerikanische Soldat und Götter der Pest (1970) etwa auf den Gangsterfilm, ging es Fassbinder nicht, wie Jean-Luc Godard im Jahrzehnt zuvor, um eine ironisierende Dekonstruktion des Genre-Kinos und noch weniger um eine mythologisierende Amerikanisierung der deutschen (Seelen-)Landschaft, wie sie fast zeitgleich Peter Handke und Wim Wenders in 3 amerikanische LPs (1969) vorführten. Das München Fassbinders bleibt als deutsches Halbwelt- und Unterschichtsmilieu stets erkennbar, auch wenn die Gesten und Verhaltensrituale der Kinohelden nachgeahmt werden. Die Aneignung der antibürgerlichen Vor-Bilder ist nicht bloße Imitation und nur die Kehrseite jener Konditionierung, die den Gestalten des depravierten Kleinbürgertums eingeschrieben ist. Nicht erst Fassbinders Filme der mittleren Phase, die nach seiner Abrechnung mit den Funktionsmechanismen des Künstlerkollektivs in Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) beginnt, enden auffällig oft mit Selbstmord. Das selbstzerstörerische Potential ist Fassbinders Figuren von Anfang an zu eigen, den Repräsentanten des Kleinbürgertums ebenso wie den Protagonisten der Gegenwelt. Die Fluchten erstarren im Ritual, enden im Tod oder - wie in Katzelmacher - mit einer Vereinnahmung des Fremden und Andersartigen.

Daß es im alles beherrschenden System der Warenwelt kein Refugium privater Gefühle gibt (doch geben müsse), daß alle zwischenmenschlichen Beziehungen, auch die der Freundschaft und Liebe, nach den Regeln von Herrschaft und Knechtschaft funktionieren (denen zu widerstehen sei), daß Leidenschaft ausbeutbar ist, in Verzweiflung und Selbstzerstörung kulminiert (wenn nicht in der Akzeptanz der Machtverhältnisse), durchzieht als Grundüberzeugung Fassbinders Oevre. Seine Filme erzählen, in immer neuen Variationen (vom Gangsterfilm über das Volksstück und Melodram bis zum Pastiche), vom wahren Leben im falschen, von der Sehnsucht danach und den oft tödlichen Konsequenzen, gerade für diejenigen, die noch nicht erkannt haben oder immer noch nicht glauben wollen, daß auch die sogenannte Intimsphäre dem Energiefeld gesellschaftlicher Macht unterliegt.
"Es gibt einen Film von Godard, den ich siebenundzwanzig Mal gesehen habe, das ist Vivre sa vie, das ist der Film, der für mein Leben zusammen mit Viridiana (von Bunuel) der wichtigste Film gewesen ist", hat Fassbinder 1974 erklärt. Doch im Gegensatz zu Godard, der sich Ende der sechziger Jahre aus dem Kino zurückzog, hat Fassbinder seit Anfang der siebziger Jahre Wege zum großen Publikum gesucht, sowohl im Kino als auch über das Massenmedium Fernsehen. Den entscheidenden Wendepunkt, die Abkehr von den Filmen "nur [...] für mich und meine Freunde", markiert Händler der vier Jahreszeiten (1972), der erste Film des jungen deutschen Autorenkinos über die Adenauer-Ära und von den Kritikern seinerzeit euphorisch bewertet: "Für mich ist es der beste deutsche Film seit dem Krieg", schrieb H. G. Pflaum. Auf jeden Fall war es der Beginn von Fassbinders Historiographie der Bundesrepublik Deutschland und ihrer fatalen Vorgeschichte, und es war seine Entdeckung des Melodrams. Voraus ging eine Begegnung mit Douglas Sirk und einigen seiner Hollywood-Melodramen, über die Fassbinder schrieb: "Es waren die schönsten der Welt dabei." Was Fassbinder über Sirks Melodramen publizierte, im Februar 1971 unter dem Titel "Imitation of Life", über die Liebe als "das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung", über die Frauen, die denken und nicht bloß reagieren, über die gesellschaftlich geprägten Räume, über Licht, Spiegel, Blut, Tränen, Gewalt, Haß, Sehnsucht und Einsamkeit, über all diese "wahnsinnigen Sachen, für die es sich lohnt", läßt sich ebenso als Kommentar zu seinen eigenen Filmen lesen. Trotz Fassbinders Kultivierung des Melodramatischen, trotz der in der Folgezeit vielfach eingesetzten Spiegel-Szenen, szenischen Einrahmungen der Figuren, symbolischen Aufladungen der Innenräume und Menschenkörper, am sinnfälligsten wohl in dem Frauenbeziehungsdrama Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972), sollte man den Einfluß Sirks, den Fassbinder damals zur künstlerischen Vaterfigur stilisierte, nicht überschätzen - nicht einmal angesichts der Parallelen zwischen Sirks Was der Himmel erlaubt (1955) und Angst essen Seele auf (1974). Fassbinder hat stets schnell auf Vorgefundenes reagiert, sich dieses anverwandelt und daraus Neues montiert. Zumeist hatte er seine genaue Vorstellung vom Bildaufbau, von der Kadrierung im Kopf, und er verfügte über ein phänomenales Bildgedächtnis, nur deshalb "hat er ja meistens nur eine Klappe gedreht" (P. Märthesheimer). Aber Fassbinder war auch ein - bisweilen schlampiges - Genie der Improvisation. Den Drehort sah er oftmals erst bei den Aufnahmen, was ebenfalls für die Ausstattung und Kostüme gilt; und die - von scharfsinnigen Cineasten als "postmodern" deklarierte - Farbdramaturgie von Lola (1981) war eine Kreation des Kameramannes Xaver Schwarzenberger, der Fassbinder und seine Arbeitsweise folgendermaßen charakterisierte: "Ich glaube, das Schnellsein hat ihm einfach Spaß gemacht. [...] Er war überhaupt kein sehr geduldiger Mensch [...] : Ungeduld und Fertigwerden-Wollen, das Ding haben und weglegen und das nächste anfangen." Fassbinders unglaubliches Produktionstempo beruhte nicht zuletzt darauf, daß er die Mitglieder seiner "Familie" an sich binden konnte, eine Voraussetzung der bekannten Abhängigkeitsverhältnisse und Machtspiele, und daß er Aufgaben delegieren konnte. Wie es seine Cutterin Juliane Lorenz formuliert hat: "Das war etwas, was ich durch ihn gelernt habe: selbständig zu sein, mich nicht andauernd abzusichern und zu fra- gen: 'Was hast du dir dabei gedacht?'."

Mit Fassbinder unauflöslich verbunden ist der Mythos des Autorenfilmers, der Fassbinder zwar war, aber anders als Herzog oder Wenders und eher in dem Sinne, daß seine Originalität nicht der Vorstellung vom romantischen Künstler verpflichtet war, sich seine Kunst im Kollektiv und durch die Methode der Collage realisierte. Was in einem "Film von Rainer Werner Fassbinder" genuin Fassbinders Kreativität entsprang, was den Einfällen der anderen zu verdanken ist, darüber gibt der von Juliane Lorenz herausgegebene Gesprächsband "Das ganz normale Chaos" (1995) manche erhellende Auskunft. Es wäre also nach dem Anteil der anderen an seinem Werk zu fragen, etwa nach der Bedeutung von Peter Märthesheimer, der mit Fassbinder zuerst als WDR-Redakteur, später als Produzent und Drehbuchautor zusammenarbeitete. Zur künstlerischen Handschrift Fassbinders gehören auch die Musik von Peer Raben und die Bildkompositionen der Kameraleute Dietrich Lohmann, Michael Ballhaus und Xaver Schwarzenberger, gehören vor allem diejenigen, die Fassbinders Protagonisten ihre unverwechselbare Erscheinung gaben: sein Star Hanna Schygulla und die ehemaligen Mitglieder des antiteaters, auch Günther Kaufmann, Hark und Marquard Bohm, Gottfried John und Klaus Löwitsch und nicht zuletzt Schauspieler wie Brigitte Mira, Karlheinz Böhm, Günter Lamprecht, Barbara Sukowa, Armin Mueller-Stahl und Rosel Zech, die Fassbinder zum Teil für das Kino wiederentdeckte. Auch Fassbinders leibliche Mutter Liselotte Eder, seine einstige Ehefrau Ingrid Caven, seine zeitweiligen Lebenspartner El Hedi Ben Salem und Armin Meier haben in und an Fassbinders Filmen mitgewirkt.

Zu dieser handwerklichen Professionalität und Fassbinders Ungeduld gehörte auch die - bisweilen gleichzeitige - Arbeit in und mit verschiedenen Medien. Ohne das öffentlich-rechtliche Fernsehen, so wie es in den siebziger Jahren als kulturelle Institution ausgebildet war, hätte Fassbinders Gesamtwerk nicht entstehen können. Das agitatorische Revolutionsspektakel Die Niklashauser Fahrt (1970) war Fassbinders erste Zusammenarbeit mit dem WDR, der auch in der Folgezeit, trotz mancher Querelen, einer seiner wichtigsten Produktionspartner blieb. 1972 produzierte der WDR die Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag, die allerdings nach fünf Folgen abgesetzt wurde. 1973 folgte der zweiteilige Fernsehfilm Welt am Draht, noch im selben Jahr Martha und 1974 die TV-Show "Wie ein Vogel auf dem Draht" mit Brigitte Mira und Evelyn Künneke. 1975 realisierte Fassbinder mit dem WDR Angst vor der Angst, im selben Jahr mit der Bavaria Atelier Ich will doch nur, daß ihr mich liebt (1976) im Auftrag des WDR, im folgenden den zweiteiligen Fernsehfilm Bolwieser (1977), mit derselben Produktionsgesellschaft, aber im Auftrag des ZDF. Der WDR war auch an der Produktion von Die Ehe der Maria Braun und Lola beteiligt, Berlin Alexanderplatz, Fassbinders erklärtes Lebensprojekt, war ebenfalls eine Produktion im Auftrag des WDR. Die Streitigkeiten mit den Sendern - man denke nur an die nicht realisierten Verfilmungen von "Die Erde ist so unbewohnbar wie der Mond" und "Soll und Haben" - waren vielleicht ein Grund, weshalb Fassbinder seit Mitte der siebziger Jahre seine radikalsten Filme über Produktionsgesellschaften wie Tango-Film, Albatros Produktion und den Filmverlag der Autoren finanzierte. Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel und Satansbraten (beide 1976) sind solche radikalen Filme, auch Die dritte Generation (1979), vor allem das unmittelbar nach dem Selbstmord von Armin Meier gedrehte Identitätsdrama In einem Jahr mit 13 Monden (1978), das die Zerstörung einer Persönlichkeit, die Aufspaltung einer Person in Erwin/Elvira bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus demonstriert. Für diesen Film schrieb Fassbinder das Drehbuch, besorgte Ausstattung und Schnitt, rührte zum ersten Mal selbst die Kamera. "Daß die Welt [...] zur Hölle geworden ist, zeigt Fassbinder in fast apokalyptischen Bildern" (W. Roth), aber es ist eine Hölle, die im Inneren ihren Ort hat.

Fassbinders Filme sind Liebesfilme, jedenfalls die meisten von ihnen, aber solche, die die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer unstillbaren Sehnsucht analysieren: zumeist melodramatisch, selten als Farce. Der sich systematisch zu Tode saufende Obsthändler Hans Epp in Händler der vier Jahreszeiten markiert ein deutsches Kleinbürgerschicksal. Das gilt ebenso für das unakzeptable Verhältnis zwischen der gealterten Putzfrau Emmi und einein marokkanischen Gastarbeiter, den sie der Einfachheit halber Ali nennt: "Alle Türken heißen Ali" sollte Angst essen Seele auf (1974) zunächst heißen. Der Film hat deshalb etwas mit der deutschen Realität zu tun, weil er ein reales Verhaltensmuster in zwei modellhaften Varianten durchspielt. In Fassbinders Kosmos konvergieren Liebe und Macht, in hetero- und homosexuellen Beziehungen, und so läßt sich seine provokante Diagnose "Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten", nicht nur auf die Titelfigur von Martha beziehen; der in diesem Frauenfilm vorgeführte Sadomasochismus weist über Geschlechtergrenzen hinaus und auf Fassbinders Version einer Passion hin, die erst ihre Erlösung findet, wenn der eigene Widerstand gebrochen ist, die "Selbstaufgabe [...] zur Geste einer Freiheit [wird], die allein wieder Identität gibt" (Th. Elsaesser). Was sich in Die bitteren Tränen der Petra von Kant andeutet, in der Leidensbereitschaft der stummen Dienerin Marione, die Insider als Hinweis auf Fassbinders Verhältnis zu Günther Kaufmann zu deuten wußten, löst der homoerotische Kosmos von Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel ein: daß die Sehnsucht nach einem reinen Begehren, mehr noch, die Suche nach dem eigenen Selbst in erster Linie eine Fiktion ist, ein regulatives Muster bürgerlichen (Er-)Lebens, von dem erst die Unterwerfung, die Akzeptanz der Macht und ihre Einverleibung, befreit. Nur hat diese Art der Selbstaufgabe, die in der Kunstwelt sadomasochistischer Rollenspiele lustvoll gelingt, realiter verhängnisvolle Konsequenzen, in der Geschichte und für die je eigene Existenz.

Fassbinder hat die eigene Person immer wieder öffentlich exponiert, auf der Leinwand am schonungslosesten in seiner Episode der Gemeinschaftsproduktion Deutschland im Herbst (1978). Wenn Fassbinder seinen nackten Körper und seine verwundete Seele für die Kamera bloßstellt, wenn er die eigene Mutter zu der Aussage treibt, daß in dieser Situation nur ein autoritärer, guter Herrscher helfen könne, und in diesem Moment wegschneidet, wenn er seinen Partner Armin Meier erniedrigt und die eigene Selbsterniedrigung zur Schau stellt dann kennzeichnet seine Paranoia vor dem Polizeistaat eben jenen paranoiden Zustand eines Teils der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie er im "heißen Herbst" 1977 am Umschlagpunkt des Terrorismus, sichtbar wurde. Radikaler lassen sich Leben und Werk, Künstler und Fiktion nicht verschmelzen, und wenn es ein klar zu bestimmendes Ende von Fassbinders mittlerer Phase gibt, dann findet es in diesem Moment statt. So gesehen wäre die Terroristen-Farce Die dritte Generation (1979) nur noch ein Nachklapp einer bereits verabschiedeten Hoffnung. Mit Die Ehe der Maria Braun beginnt Fassbinder seine »BRD-Trilogie«, die Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) fortzusetzen. Seine Revision der deutschen Nationalgeschichte macht auch Stilistisch von der deutschen Filmgeschichte Gebrauch, nutzt die Ästhetik der UFA-Filme für die Inszenierung historisierter Kunstwelten, deren Bezugspunkt aber stets die Gegenwart bleibt. In dieses Projekt fügt sich Lili Marleen (1981) ein, ein - wie Kritiker meinten - Film der "verschwimmenden Positionen" und einer, der Fassbinder den Vorwurf einer "Ästhetisierung des Faschismus" (S. Friedländer) einbrachte. Gerade der Dokumentarfilm Theater in Trance und der Schwulenfilm Querelle zeigen aber auch, daß Fassbinders Oeuvre stilistisch nie homogen war. Die Filmprojekte "Rosa Luxemburg" und "Kokain" hat Fassbinder nicht mehr realisieren können. Der von der Rainer Werner Fassbinder Foundation verwaltete Nachlaß wird zeigen, ob sich vom Ende her neue Perspektiven eröffnen lassen.
Für alle Filme Fassbinders gilt, daß sie die historische oder gegenwärtige Wirklichkeit niemals direkt abbilden, ihre Wirklichkeit ist ebenso Medienrealität, wie ihr Fokus das gegenwärtige Deutschland bleibt, so wie es Fassbinder gesehen hat: als eine Republik, in der sich der Faschismus auffällig unbehindert fortgeschrieben habe. Th. Elsaesser hat Fassbinder als den "Chronisten des westdeutschen Innenlebens" bezeichnet. Eine andere, vielleicht nicht minder produktive Lesart wäre, in Fassbinders Filmen die unstillbare Sehnsucht nach einem wahren, wirklichen Leben in einem unüberwindlichen falschen, entfremdeten aufzudecken, eine Sehnsucht, die bis zur Selbstdestruktion führt. Diese Lesart würde auf ein Dilemma hinweisen, das in der Postmoderne gern unterschlagen wird: auf die uneinlösbare Utopie authentischer Identität. Nicht daß Fassbinder ein Postmodemist gewesen wäre, aber sein Gesamtwerk markiert, wie auch das von Jean-Luc Godard, jene Schwelle der Filmgeschichte, an der sich das moderne Autorenkino selbst überlebt. Fassbinder hat seine Perspektive einer radikal antibürgerlichen Utopie, wie sie im Spätwerk aufscheint, bereits 1977 skizziert, mit dem ihm eigenen Mut und der ihm eigenen Verzweiflung: "Unsere Beziehungen sind ja deshalb grausame Spiele miteinander, weil wir unser Ende nicht als etwas Positives anerkennen. Es ist positiv, weil es wirklich ist. Das Ende ist das konkrete Leben. Der Körper muß den Tod verstehen."

Aus Reclams Lexikon der Filmregisseure

Filmographie:
This Night (1966) - Der Stadtstreicher (1966) - Das kleine Chaos (1967) - Liebe ist kälter als der Tod (1969) - Katzelmacher (1969) - Götter der Pest (1970) - Warum läuft Herr R. Amok? (Co-Regie: Michael Fengler, 1970) - Das Kaffeehaus (1970) - Die Niklashauser Fart (1970) - Der amerikanische Soldat (1970) - Rio das Mortes (1971) - Whity (1971) - Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) - Pioniere in Ingolstadt (1971) - Händler der vier Jahreszeiten (1972) - Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) - Wildwechsel (1972) - Acht Stunden sind kein Tag (Fernsehserie, 1972/73) - Bremer Freiheit (1972) - Welt am Draht (Fernsehfilm, 1973) - Nora Helmer (1974) - Angst essen Seele auf (1974) - Martha (Fernsehfilm, 1974) - Fontane Effi Briest (1974) - Faustrecht der Freiheit (1975) - Wie ein Vogel auf dem Draht (Femsehshow, 1975) - Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel (1976) - Angst vor der Angst (1975) - Ich will doch nur, daß ihr mich liebt (1976) - Satansbraten (1976) - Chinesisches Roulette (1976) - Bolwieser (Fernsehfilm, 1977) - Frauen in New York (1977) - Despair - Eine Reise ins Licht - (1978) - Deutschland im Herbst (Episode, 1978) - In einem Jahr mit 13 Monden (1978) - Die Ehe der Maria Braun (1979) - Die dritte Generation (1979) - Berlin Alexanderplatz (Fernsehfilm in 13 Teilen und einem Epilog, 1980) - Lili Marleen (1981) - Lola (1981) - Theater in Trance (Dokumentarfilm, 1981) - Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) - Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel (1982).

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