Welt am Draht - Rainer Werner Fassbinder |
Saturday, 10. August 2002
Rainer Werner Fassbinder
marcosolo
12:41h
Geboren am 31. Mai 1945 in Bad Wörishofen, im selben Jahr wie Wim Wenders und drei Jahre nach Werner Herzog, war Rainer Werner Fassbinder zunächst das Wunderkind des Neuen Deutschen Films, später der "agent provocateur" im bundesrepublikanischen Kulturbetrieb: man denke nur an den Aufstand gegen sein angeblich linksfaschistisches Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod (1976) oder an die Kampagne der Boulevardpresse gegen den "Schmuddelsex" in Berlin Alexanderplatz (1980). Postum hat man Rainer Werner Fassbinder zum Klassiker stilisiert, als "das Herz, die schlagende, vibrierende Mitte" des bundesdeutschen Autorenkinos verortet (W. Schütte). In die Filmgeschichte eingeschrieben wurde der Filmemacher, der auch Dramatiker, Schauspieler und Theaterregisseur war, als "das maßlose Genie", nicht zuletzt von den selbsternannten Biographen aus dem Freundeskreis. Sein früher Tod, am 10. Juni 1982 in seinem Münchner Apartment, hat ein Lebenswerk vorzeitig vollendet, das seinen vielzitierten Wahlspruch noch retrospektiv zu illustrieren scheint: "Schlafen kann ich, wenn ich tot bin ..."
Über 40 Kino- und Fernsehfilme hat der Autodidakt Fassbinder, nach seiner erfolglosen Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und drei weitgehend unbekannt gebliebenen Kurzfilmen, in den 13 Jahren von 1969 bis 1982 gedreht: als ein Regisseur, der zumeist auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, mitunter sogar für Ausstattung, Kamera und Schnitt (letzteres unter seinem Pseudonym Franz Walsch), und als ein Filmemacher, der auch regelmäßig vor der Kamera agierte, vorrangig in seinen eigenen Filmen, aber auch in denen anderer Regisseure, am Beginn seiner Karriere etwa als Zuhälter in Jean-Marie Straubs Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) und in der Titelrolle von Volker Schlöndorffs Baal (1969), am Ende seines kurzen Lebens am eindringlichsten als abgehalfterter Polizeileutnant Jansen in Wolf Gremms Kamikaze 1989 (1982). Fassbinder war 1971 an der Gründung des Verlags der Autoren und der Produktionsgesellschaft Tango-Film beteiligt; er hat im kleinen Rahmen als Produzent gearbeitet, etwa bei Ulli Lommels Die Zärtlichkeit der Wölfe (1973), und er hat mit seiner Theaterarbeit für Aufsehen gesorgt: von 1967 bis 1969 als Kopf jener Münchner Avantgarde-Truppe, die sich erst "action- theater", dann "antiteater" nannte, von 1974 bis 1976 als künstlerischer Leiter des Frankfurter Theater am Turm (TAT). Am Theater inszeniert hat Fassbinder auch in Bremen, Bochum, Berlin, Hamburg und München. Seine Theaterstücke Katzelmacher (1968), Der amerikanische Soldat (1968) und Petra von Kant (1971) hat er selbst für die Leinwand adaptiert, und er hat das Medium Fernsehen genutzt, um seine Vorstellungen von Theater einem größeren Publikum zu präsentieren: mit Aufzeichnungen seiner Inszenierungen, von Das Kaffeehaus (1970) bis Frauen in New York (1977), und mit seinem einzigen Dokumentarfilm Theater in Trance (1981).
Daß man die Komplexität dieses zwischen den Medien changierenden Oeuvres keine zwei Jahrzehnte nach Fassbinders Tod in Erinnerung rufen muß, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß in diesem Fall der Künstler das Werk stets überschattete, auch provokativ akzentuierte und in die Diskussion brachte, und daß dieses Werk mit der Person allmählich zu verblassen droht, auch wenn Retrospektiven im In- und Ausland in den letzten Jahren noch einmal für Diskussionen gesorgt haben. Sicherlich werden einige Filme von Rainer Werner Fassbinder im Gedächtnis bleiben, etwa der späte Publikumserfolg Die Ehe der Maria Braun (1979), vielleicht auch Fontane Effi Briest (1974) und einige andere. Aber wie steht es mit den frühen Gangsterfilmen Götter der Pest und Der amerikanische Soldat (beide 1970) oder mit dem Western Whity (1971), Fassbinders erster Großproduktion, die nie einen Verleih fand? Wo läßt sich das Melodram Martha (1974), Fassbinders erste explizite Auseinandersetzung mit dem Sadomasochismus, heute noch begutachten oder seine lustvolle Selbstdarstellung als naiver Schwuler in Faustrecht der Freiheit (1975)? Wer erinnert sich noch an Satansbraten (1976), die Farce um ein Dichterleben aus zweiter Hand, oder an die Nabokov-Verfilmung Eine Reise ins Licht - Despair (1978), die trotz der Stars Dirk Bogarde und Andrea Ferreol kein Erfolg wurde? Wann wird der zweiteilige Science-fiction-Film Welt am Draht (1973) noch einmal auf dem Bildschirm erscheinen, wo hat Fassbinders hochartifizielle Genet-Adaption Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel (1982) noch Bedeutung, außer in der schwulen Subkultur? Selbst wenn einige der genannten und manche andere Filme von Fassbinder als Videoedition verfügbar sind: im Ausland spricht man von Fassbinder bereits als "the forgotten filmmaker" (Th. Elsaesser).
"Das wichtigste ist, scheint mir, Unbehagen an Einrichtungen des Bürgertums zu schaffen." Das Fassbinders "Ajax"-Inszenierung (1968) vorangestellte Motto kennzeichnet auch die Zielsetzung seiner frühen Spielfilme, die er mit den Mitgliedern der antiteater-Kommune realisierte, von denen der erste explizit an diejenigen gerichtet war, "von denen ich will, daß sie eine Wut kriegen, wie ich sie habe": Im Juni 1969 wurde Liebe ist kälter als der Tod auf der Berlinale uraufgeführt. Im Oktober desselben Jahres wurde Katzelmacher mit dem Preis der Filmkritik, dem Preis der Deutschen Akademie für darstellende Künste und mit fünf Bundesfilmpreisen ausgezeichnet. Es war der Beginn einer in der Geschichte des deutschen Films einzigartigen Produktivität.
Daß es im alles beherrschenden System der Warenwelt kein Refugium privater Gefühle gibt (doch geben müsse), daß alle zwischenmenschlichen Beziehungen, auch die der Freundschaft und Liebe, nach den Regeln von Herrschaft und Knechtschaft funktionieren (denen zu widerstehen sei), daß Leidenschaft ausbeutbar ist, in Verzweiflung und Selbstzerstörung kulminiert (wenn nicht in der Akzeptanz der Machtverhältnisse), durchzieht als Grundüberzeugung Fassbinders Oevre. Seine Filme erzählen, in immer neuen Variationen (vom Gangsterfilm über das Volksstück und Melodram bis zum Pastiche), vom wahren Leben im falschen, von der Sehnsucht danach und den oft tödlichen Konsequenzen, gerade für diejenigen, die noch nicht erkannt haben oder immer noch nicht glauben wollen, daß auch die sogenannte Intimsphäre dem Energiefeld gesellschaftlicher Macht unterliegt.
Mit Fassbinder unauflöslich verbunden ist der Mythos des Autorenfilmers, der Fassbinder zwar war, aber anders als Herzog oder Wenders und eher in dem Sinne, daß seine Originalität nicht der Vorstellung vom romantischen Künstler verpflichtet war, sich seine Kunst im Kollektiv und durch die Methode der Collage realisierte. Was in einem "Film von Rainer Werner Fassbinder" genuin Fassbinders Kreativität entsprang, was den Einfällen der anderen zu verdanken ist, darüber gibt der von Juliane Lorenz herausgegebene Gesprächsband "Das ganz normale Chaos" (1995) manche erhellende Auskunft. Es wäre also nach dem Anteil der anderen an seinem Werk zu fragen, etwa nach der Bedeutung von Peter Märthesheimer, der mit Fassbinder zuerst als WDR-Redakteur, später als Produzent und Drehbuchautor zusammenarbeitete. Zur künstlerischen Handschrift Fassbinders gehören auch die Musik von Peer Raben und die Bildkompositionen der Kameraleute Dietrich Lohmann, Michael Ballhaus und Xaver Schwarzenberger, gehören vor allem diejenigen, die Fassbinders Protagonisten ihre unverwechselbare Erscheinung gaben: sein Star Hanna Schygulla und die ehemaligen Mitglieder des antiteaters, auch Günther Kaufmann, Hark und Marquard Bohm, Gottfried John und Klaus Löwitsch und nicht zuletzt Schauspieler wie Brigitte Mira, Karlheinz Böhm, Günter Lamprecht, Barbara Sukowa, Armin Mueller-Stahl und Rosel Zech, die Fassbinder zum Teil für das Kino wiederentdeckte. Auch Fassbinders leibliche Mutter Liselotte Eder, seine einstige Ehefrau Ingrid Caven, seine zeitweiligen Lebenspartner El Hedi Ben Salem und Armin Meier haben in und an Fassbinders Filmen mitgewirkt.
Zu dieser handwerklichen Professionalität und Fassbinders Ungeduld gehörte auch die - bisweilen gleichzeitige - Arbeit in und mit verschiedenen Medien. Ohne das öffentlich-rechtliche Fernsehen, so wie es in den siebziger Jahren als kulturelle Institution ausgebildet war, hätte Fassbinders Gesamtwerk nicht entstehen können. Das agitatorische Revolutionsspektakel Die Niklashauser Fahrt (1970) war Fassbinders erste Zusammenarbeit mit dem WDR, der auch in der Folgezeit, trotz mancher Querelen, einer seiner wichtigsten Produktionspartner blieb. 1972 produzierte der WDR die Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag, die allerdings nach fünf Folgen abgesetzt wurde. 1973 folgte der zweiteilige Fernsehfilm Welt am Draht, noch im selben Jahr Martha und 1974 die TV-Show "Wie ein Vogel auf dem Draht" mit Brigitte Mira und Evelyn Künneke. 1975 realisierte Fassbinder mit dem WDR Angst vor der Angst, im selben Jahr mit der Bavaria Atelier Ich will doch nur, daß ihr mich liebt (1976) im Auftrag des WDR, im folgenden den zweiteiligen Fernsehfilm Bolwieser (1977), mit derselben Produktionsgesellschaft, aber im Auftrag des ZDF. Der WDR war auch an der Produktion von Die Ehe der Maria Braun und Lola beteiligt, Berlin Alexanderplatz, Fassbinders erklärtes Lebensprojekt, war ebenfalls eine Produktion im Auftrag des WDR. Die Streitigkeiten mit den Sendern - man denke nur an die nicht realisierten Verfilmungen von "Die Erde ist so unbewohnbar wie der Mond" und "Soll und Haben" - waren vielleicht ein Grund, weshalb Fassbinder seit Mitte der siebziger Jahre seine radikalsten Filme über Produktionsgesellschaften wie Tango-Film, Albatros Produktion und den Filmverlag der Autoren finanzierte. Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel und Satansbraten (beide 1976) sind solche radikalen Filme, auch Die dritte Generation (1979), vor allem das unmittelbar nach dem Selbstmord von Armin Meier gedrehte Identitätsdrama In einem Jahr mit 13 Monden (1978), das die Zerstörung einer Persönlichkeit, die Aufspaltung einer Person in Erwin/Elvira bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus demonstriert. Für diesen Film schrieb Fassbinder das Drehbuch, besorgte Ausstattung und Schnitt, rührte zum ersten Mal selbst die Kamera. "Daß die Welt [...] zur Hölle geworden ist, zeigt Fassbinder in fast apokalyptischen Bildern" (W. Roth), aber es ist eine Hölle, die im Inneren ihren Ort hat.
Fassbinders Filme sind Liebesfilme, jedenfalls die meisten von ihnen, aber solche, die die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer unstillbaren Sehnsucht analysieren: zumeist melodramatisch, selten als Farce. Der sich systematisch zu Tode saufende Obsthändler Hans Epp in Händler der vier Jahreszeiten markiert ein deutsches Kleinbürgerschicksal. Das gilt ebenso für das unakzeptable Verhältnis zwischen der gealterten Putzfrau Emmi und einein marokkanischen Gastarbeiter, den sie der Einfachheit halber Ali nennt: "Alle Türken heißen Ali" sollte Angst essen Seele auf (1974) zunächst heißen. Der Film hat deshalb etwas mit der deutschen Realität zu tun, weil er ein reales Verhaltensmuster in zwei modellhaften Varianten durchspielt. In Fassbinders Kosmos konvergieren Liebe und Macht, in hetero- und homosexuellen Beziehungen, und so läßt sich seine provokante Diagnose "Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es gerne hätten", nicht nur auf die Titelfigur von Martha beziehen; der in diesem Frauenfilm vorgeführte Sadomasochismus weist über Geschlechtergrenzen hinaus und auf Fassbinders Version einer Passion hin, die erst ihre Erlösung findet, wenn der eigene Widerstand gebrochen ist, die "Selbstaufgabe [...] zur Geste einer Freiheit [wird], die allein wieder Identität gibt" (Th. Elsaesser). Was sich in Die bitteren Tränen der Petra von Kant andeutet, in der Leidensbereitschaft der stummen Dienerin Marione, die Insider als Hinweis auf Fassbinders Verhältnis zu Günther Kaufmann zu deuten wußten, löst der homoerotische Kosmos von Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel ein: daß die Sehnsucht nach einem reinen Begehren, mehr noch, die Suche nach dem eigenen Selbst in erster Linie eine Fiktion ist, ein regulatives Muster bürgerlichen (Er-)Lebens, von dem erst die Unterwerfung, die Akzeptanz der Macht und ihre Einverleibung, befreit. Nur hat diese Art der Selbstaufgabe, die in der Kunstwelt sadomasochistischer Rollenspiele lustvoll gelingt, realiter verhängnisvolle Konsequenzen, in der Geschichte und für die je eigene Existenz.
Fassbinder hat die eigene Person immer wieder öffentlich exponiert, auf der Leinwand am schonungslosesten in seiner Episode der Gemeinschaftsproduktion Deutschland im Herbst (1978). Wenn Fassbinder seinen nackten Körper und seine verwundete Seele für die Kamera bloßstellt, wenn er die eigene Mutter zu der Aussage treibt, daß in dieser Situation nur ein autoritärer, guter Herrscher helfen könne, und in diesem Moment wegschneidet, wenn er seinen Partner Armin Meier erniedrigt und die eigene Selbsterniedrigung zur Schau stellt dann kennzeichnet seine Paranoia vor dem Polizeistaat eben jenen paranoiden Zustand eines Teils der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie er im "heißen Herbst" 1977 am Umschlagpunkt des Terrorismus, sichtbar wurde. Radikaler lassen sich Leben und Werk, Künstler und Fiktion nicht verschmelzen, und wenn es ein klar zu bestimmendes Ende von Fassbinders mittlerer Phase gibt, dann findet es in diesem Moment statt. So gesehen wäre die Terroristen-Farce Die dritte Generation (1979) nur noch ein Nachklapp einer bereits verabschiedeten Hoffnung. Mit Die Ehe der Maria Braun beginnt Fassbinder seine »BRD-Trilogie«, die Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) fortzusetzen. Seine Revision der deutschen Nationalgeschichte macht auch Stilistisch von der deutschen Filmgeschichte Gebrauch, nutzt die Ästhetik der UFA-Filme für die Inszenierung historisierter Kunstwelten, deren Bezugspunkt aber stets die Gegenwart bleibt. In dieses Projekt fügt sich Lili Marleen (1981) ein, ein - wie Kritiker meinten - Film der "verschwimmenden Positionen" und einer, der Fassbinder den Vorwurf einer "Ästhetisierung des Faschismus" (S. Friedländer) einbrachte. Gerade der Dokumentarfilm Theater in Trance und der Schwulenfilm Querelle zeigen aber auch, daß Fassbinders Oeuvre stilistisch nie homogen war. Die Filmprojekte "Rosa Luxemburg" und "Kokain" hat Fassbinder nicht mehr realisieren können. Der von der Rainer Werner Fassbinder Foundation verwaltete Nachlaß wird zeigen, ob sich vom Ende her neue Perspektiven eröffnen lassen. Aus Reclams Lexikon der Filmregisseure Filmographie:
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